So wenig und doch so viel - der erste Monat
- J. Kar
- 5. Aug. 2018
- 6 Min. Lesezeit
Ich würde jetzt gerne schreiben, dass ich heute Morgen aufgewacht bin und mir auf einmal aufgefallen ist, dass bereits ein Monat vergangen ist. Doch ganz so ist es leider nicht. Ich habe hier trotz so machen Hürden echt viel Spaß und fühle mich schon nach der kurzen Zeit hier echt wohl, aber trotzdem läuft mein innerer Timer immer mit und zählt, wie lange ich schon hier in Kadapa bin. Meine Vermutung ist, dass das jedoch nachlassen wird, wenn die anderen Freiwilligen alle weg sind. Denn diese packen hier momentan ihre sieben Sachen und planen ihre Heimkunft. Immer wenn sie davon erzählen, wie sehr sie sich auf zu Hause freuen und darauf ihre Familien und Freunde wieder zu sehen, packt mich eine melancholische Vorfreude auch meine Heimkunft zu planen, obwohl es noch fast ein Jahr dauert.
In diesen vier Wochen habe ich schon viel erlebt, Menschen fest ins Herz geschlossen und viel gelernt. Von der Dauer her fühlt es sich so an, als ob ich erst vor ein Tagen angekommen wäre, von den Erlebnissen her fühlt es sich jedoch an, als ob ich schon ewig hier wäre. Wenn ich zum Beispiel an den Fortschritt der Bridge-School denke, merke ich das ganz extrem. Wir haben zwar immer noch nicht wirklich Ausstattung oder sonstiges, aber wir sind bereits schon einmal umgezogen, vergrößern uns gerade und haben Anfang der Woche eine weitere Lehrerin in unserem Team begrüßen dürfen. Da es hieß, dass sie die erste Lehrerin der Bridge-School mit Erfahrung sei, setzte ich all meine Hoffnung in sie. Ein Punkt an dem ich zum Beispiel etwas gelernt habe. Auch wenn sich Menschen im ersten Moment ganz super präsentieren und Versprechungen machen, heißt es nicht, dass man nicht enttäuscht wird. Etwas Gutes hatte die ganze Sache jedoch trotzdem: Die beiden anderen Lehrerinnen, mit denen ich bereits seit drei Wochen zusammen arbeite und welche ich versuche zum Unterrichten anzuregen, haben sich seit der Ankunft der neuen Lehrerin echt ins Zeug gelegt und für die vorherigen Verhältnisse wirklich geglänzt. Es ist trotzdem noch ein wirklich langer Weg, aber diese Woche haben die beiden mir ein kleines bisschen Hoffnung geschenkt, außerdem bin ich ja noch ein knappes Jahr da.
Am Samstag habe ich mit zwei Mitfreiwilligen unsere Umwelt AG gestartet. Wir standen pünktlich um 9 Uhr in unserem vorbereiteten Raum, nur die Schüler fehlten leider, da die Leiterin der High School völlig vergessen hatte ihnen mitzuteilen, dass die AG an diesem Samstag starte sollte. Nachdem sie dann endlich verspätet eingetroffen waren, konnten wir jedoch immer noch nicht anfangen, da vor dem Raum ein paar Affen turnten. Affen sind hier zwar nichts Ungewöhnliches, jedoch trotzdem immer wieder ein richtiges Spektakel. Deshalb sind hier auch die Fenster und Gebäude mit Gittern gesichert. Eine der Putzfrauen hatte jedoch am Morgen das Gitter aufgeschlossen und den Schlüssel stecken lassen. Den hatte sich einer der Affen ganz gekonnt geschnappt und spielte nun damit herum. Nach einem gar nicht so kurzen Schauspiel konnten wir den Schlüssel zurück ergattern und die AG konnte starten. Durch die ganzen Verzögerungen kamen wir nicht wirklich weit, aber trotzdem hat es wirklich Spaß gemacht und ich freue mich schon auf das nächste Mal.
Doch ich habe nicht nur in schulischen Bereichen etwas gelernt. Die Bridge-School Schüler sind ganz scharf auf einen sprachlichen Austausch. So sind sie extrem interessiert an „the germany language“ (wie sie es liebevoll nennen). Da ich jedoch auch gerne etwas Telugu können würde, habe ich mit ihnen ausgemacht, dass ich ihnen etwas Deutsch beibringe, wenn sie mir im Gegenzug Telugu beibringen. Ein paar Brocken kann ich schon, jedoch noch nicht genug um selbstständig Sätze zu formen, da es meist nur einzelne Wörter sind. Weil es nicht nur den Kindern Spaß macht und ich es wirklich genieße Zeit mit ihnen zu verbringen, werde ich glaube ich nach der Umwelt AG eine AG über Sprachen starten. Denn es sind in der Bridge-School nicht nur Telugu und Deutsch vertreten, sondern auch Hindi, Jatapu und ein paar weitere Sprachen.
Nicht jeder Prozess des Lernens passiert aktiv. Ich lerne zum Beispiel Waschmaschinen, ein richtiges Bett, eine Dusche (welche keine Stromschläge verteilt), Kaffee, die Müllabfuhr, die Haare offen tragen zu können (ist hier aufgrund der Temperaturen nicht möglich) und vieles mehr schätzen, was noch vor ein paar Wochen für mich zum Alltag gehörte.
Ich werde hier von den Kindern übrigens „Akka“ genannt. Es ist Telugu und bedeutet „große Schwester“. Am Freitag kamen zwei ältere Mädchen aus der Bridge-School und erklärten mir, dass wir nicht länger Schwestern seien, sondern gute Freunde. Da ich in meinen Freundeskreisen zu Hause kein Ranking mit guten Freunden und besten Freunden mache, ist für mich eine nicht-biologische Schwester das Höchste. Nun war ich stark verwirrt, ob es etwas Gutes ist oder eher etwas Schlechtes sei. Da wir jedoch durch einen Notfall unterbrochen wurden, konnte ich nicht näher nachfragen. Als wir am Sonntag zum (hier sehr populären) Friendship Day ins Village gingen, sollte ich meine Frage beantworten. Nachdem ich eine Zeit lang mit den Jüngeren gespielt hatte, wurde ich von einem der älteren Mädchen, welche mit mir am Freitag über meinen Status geredet hatte, in einen der Schlafsäle geführt. Die Mädchen sind auf vier Häuser aufgeteilt. In den Häusern gibt es jeweils nochmal verschiedene Schlafräume. In einem Raum leben im Schnitt ca. 12 Mädchen zusammen. Ihre Betten bestehen aus harten Metallgestellen, welche mit dünnen Matratzenauflagen ausgestattet sind. Als ich das das erste Mal gesehen habe, ist mir aufgefallen, wie verweichlicht wir in Deutschland eigentlich sind, denn den Mädchen macht das laut Eigenaussagen gar nichts aus.
Nachdem ich mit ihr und ein paar anderen auf ihrem Bett saß, bekam ich ein wunderschönes und selbstgeknüpftes Freundschaftsbändchen. Da ich erst am Abend zuvor vom Friendship Day erfahren hatte, hatte ich nun gar nichts für sie, weswegen ich mich schlecht fühlte, doch die Mädchen wissen, dass es nicht auf die materiellen Dinge im Leben ankommt, somit wurde lächelnd darüber hinweg geschaut und wir verbrachten den restlichen Mittag zusammen. Am Tag zuvor hatte eine amerikanische Besucherin einem der Mädchen ein kleines Fläschchen Nagellack geschenkt. Ihr ganzer Stolz. Anstatt es sich aufzusparen, legte sie sehr viel Wert darauf, mir die Nägel zu lackieren. Mich fasziniert das immer wieder, alles für jemanden zu geben, obwohl man eigentlich selbst nichts hat. Das Faszinierende ist nicht die Denkweise an sich, sondern viel mehr die so stark verbreitete Umsetzung. Viele haben diese Denkweise in Deutschland nicht, was eigentlich ziemlich traurig ist, da wir alles haben und oft nicht bereit sind etwas davon abzugeben. Die Angst etwas weniger zu besitzen als jemand anders, sitzt tief in den Köpfen Vieler. Meiner Meinung nach sollten wir daran arbeiten das zu ändern.
Nachdem sie mir liebevoll und sorgfältig die Nägel in einem schrecklich quietschenden Pink lackiert hatte, waren die Haare dran. Für das Styling benutzte sie natürlich ihre Bürste und als Dekoration steckte sie mir noch zwei Haarspangen ins Haar. An sich eine weitere sehr liebe Geste, doch es haben wohl beinahe alle Mädchen im Village Läuse. Da ich jedoch auch niemanden verletzten will und sie viel Spaß daran haben, lasse ich mir die Haare trotzdem weiterhin von den Mädchen machen. Ich plane das nächste Mal aber trotzdem lieber meine eigene Bürste einzupacken, damit ich nicht provoziere, welche zu bekommen. Während ich zurecht gemacht wurde, wurde mir erklärt, dass eine Freundin hier viel höher steht, als eine Akka und ich somit befördert wurde, was mich natürlich riesig freute. Diese Mädchen gehören zum Beispiel zu denen, welche ich schon jetzt fest ins Herz geschlossen habe.
Kein Tag ist wie der andere, einen richtigen Alltag gibt es also gar nicht. Dadurch gestaltet sich jeder Tag ganz unterschiedlich und es bleibt spannend. Diese (teilweise geplante) Spontanität ist übrigens etwas, was ich hier an der Arbeit liebe.
Auch liebe ich die täglichen Stromausfälle. Diese in Kombination mit den Unwettern, die hier seit Freitag ab und zu herrschen, machen es hier echt gemütlich. Es wird übrigens vermutet, dass diese nun endlich die Monsunzeit ankündigen. Mir wurde jedoch auch erzählt, dass sie zwischen Ende Juni und Ende September beginnt, weswegen man sich also nicht sicher sein kann.
Gutgelaunte Grüße aus Kadapa
Zia
P.s. In den letzten Wochen habe ich sehr viel Neues erlebt. Da ich nun aber hier eine feste Aufgabe und so etwas wie Alltag habe, werde ich mich vermutlich nicht mehr ganz so regelmäßig melden. Nicht falsch verstehen, es kommt noch was, nur nicht mehr so häufig, da es ja auch nicht langweilig werden soll. Oder öfter aber kürzer. Ich bin mir noch nicht sicher.


Die Schüler der High School bei ihrem täglichen Ritual, welches aus einem Lied, einem Gebet und der indischen Nationalhymne besteht.
Es ist jedes Mal auf's Neue ein Schock wie es hier an den meisten Ecken aussieht.

Einfach nur ein fancy roter Käfer. Den wir im Heim gesehen haben.
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