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  • AutorenbildJ. Kar

Wie Wissen zu Bewusstsein wird - Der dritte Monat

Schon gute drei Monate? Das ist etwas mehr als ein viertel Jahr! Die Zeit vergeht hier wie im Flug, nun bin ich schon so lange hier und es kommt mir eigentlich gar nicht so vor. Erst wenn ich zurück an die vergangene Zeit hier in Indien denke, wird mir bewusst, das schon irre viel passiert ist. Ich durfte wundervolle Menschen kennenlernen und lieb gewinnen. Auch an dem ein oder anderen Ausflug durfte ich teilnehmen, um die indische Kultur näher kennenzulernen. Des Weiteren durfte ich dabei helfen den Grundstein für die Creative School zu setzen und sie nun weiterhin als Koordinatorin zu begleiten. Außerdem konnte ich bereits einen Kurztrip nach Bengalore genießen und dort ein paar neue Bekanntschaften machen. Und nicht zu vergessen sind natürlich die ganzen hinduistischen und nationalen Feiertage, welche mir viel über den Glauben, das Land und die Gesellschaft erklären.

Das alles habe ich bisher sehr genossen und ich werde jetzt schon traurig, wenn ich daran denke, dass meine Zeit hier nur noch auf ca. 8,5 Monate begrenzt ist. Ich durfte jedoch nicht nur an positiven Herausforderungen und Erfahrungen wachsen.

Immer wieder stoße ich auf starke kulturelle Unterschiede. Es sind Dinge die für Indien wohl „normal“ seien, aber ich kann auch nach guten drei Monaten keinen Frieden damit schließen. Wobei das meiner Meinung nach auch gut ist, da man sich an solche Umstände gar nicht gewöhnen wollen sollte. Damit du weißt, von welchen Dingen ich rede, möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel bringen. Aus Respekt und um natürlich die Kinder zu schützen und ihre Würde zu wahren, werde ich im Folgenden alle Namen ändern.


Kurz nach dem Umzug der Creative School kam ein Schwung neuer Schüler zu uns. Darunter waren drei Schwestern, welche noch relativ neu im Village waren. Die älteste Schwester wirkte zunächst eher schüchtern und zurückhaltend. Nach ein paar Wochen entpuppte sie sich jedoch als ein aufgeschlossenes Mädchen, welches für jeden Spaß zu haben ist. Trotzdem wirkt sie an manchen Tagen immer noch bedrückt, aber meistens möchte sie ihre Gefühle verbergen und nicht drüber reden, was es mir teilweise unmöglich macht ihr wirklich zu helfen. In diesen Situationen versuche ich ihr durch Dinge wie Umarmungen wenigstens meine Anteilnahme zu zeigen. Die mittlere Schwester ist voller Leben und Freude, bei allem fängt sie an zu lachen, als ob sie die gute Laune in Person wäre und freut sich über jede Umarmung. Schon von Anfang an empfand ich für dieses Mädchen tiefe Bewunderung, da sie in allem etwas Gutes findet und es schafft sich selbst über die kleinsten Dinge zu freuen, als ob es das Beste wäre, dass ihr je passiert wäre. Egal wie müde oder schlecht gelaunt ich manchmal bin, durch ihr ehrliches und gut gelauntes Lachen schafft sie es immer mich ebenfalls zum Lachen zu bringen. Die Jüngste von ihnen ist ein kleiner schüchterner Sonnenschein, welcher leider in die Pre-School gehört, da die Creative School erst ab der ersten Klasse beginnt. Also brachte ich sie in den Pre-School Sektor und nur Pranitha (die Älteste) und Asha (die Mittlere) blieben. Sie haben sich super schnell eingelebt und ich rede, tanze und lache echt unglaublich gerne mit den beiden. Asha hat zwei sehr gute Freundinnen, mit denen sie auch zusammen ins Village gekommen ist. Alisha und Lakshmi. Es sind ebenfalls zwei wunderbare Kinder, welche eine kleine Weile zum Auftauen gebraucht haben, jetzt aber zwei lachende kleine Kuschelmonster sind.

Eines Tages hatte ich eine Besprechung mit der Leiterin der High School und sie erzählte mir, dass sie vor einigen Wochen einen kleinen Stadtteil besucht habe. Dort habe sie Leute gesehen, welche in einfachen Zelten leben. Sie erzählte mir, dass sie nicht einmal gewusst habe, dass es heutzutage noch solche Umstände in Indien gebe. Doch nicht diese Tatsache ist der schockierende Part. Die Leiterin erzählte mir ebenfalls, dass die Leute des Viertels regelmäßige Treffen haben sollen, bei denen die Leute zusammen kommen und verhandeln. Als „Gut“ sollen die Meisten wohl nicht mit materiellen Gegenständen handeln, sondern mit ihren Kindern, da sie sonst nichts haben. Es herrsche also eine so ausgeprägte Armut, dass die Bewohner des Viertels sich dazu gezwungen sehen ihre Kinder für ihr eigenes Überleben einzutauschen. Ob sie als normale Arbeiter oder noch schlimmeres gekauft wurden weiß ich nicht, aber von den Erzählungen her könnte ich mir alles vorstellen. Um wenigstens ein paar Kinder zu schützen, wurde ein Teil der Mädchen mit in das Village genommen. Die Familien erhalten nun eine kleine finanzielle Unterstützung und durch die Aarti School auch eine Chance darauf, ihren restlichen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen.

Ich hätte niemals gedacht, dass die Leiterin der High School dabei die ganze Zeit Pranitha, Asha, Alisha und Lakshmi vor Augen hatte. Als ich die Hintergründe und Umstände der Mädchen erfuhr war ich sprachlos. Sprachlos, dass es Kinderhandel überhaupt tatsächlich gibt und sprachlos darüber, dass die betroffenen Mädchen trotzdem so lebensfroh und offen sind. An diesem Tag ist mir etwas klar geworden: Wissen heißt noch lange nicht Bewusstsein. Ich hatte zwar zuvor schon gehört, dass es Dinge wie Kinderhandel noch gibt, aber mir war es nie wirklich bewusst. Täglich mit Betroffenen zusammen zu arbeiten, lässt Wissen zu Bewusstsein werden. Der Prozess vom Wissen zum Bewusstsein war ein ziemlicher Tiefschlag. Aber auch wenn in dieser Zeit der Gedanke von Unwissenheit sehr schön war, war ich die ganze Zeit sehr dankbar für das Bewusstsein. Lieber die hässliche Wahrheit kennen, als in einer Blase mit schönen Lügen zu leben.

Mit 3 Jahren, 8 Jahren und 13 Jahren betraten die fünf also das erste Mal eine Schule. Während die Kinder in Deutschland die Schule als „Ort der Qualen“ bezeichnen und sich über jeden schulfreien Tag freuen, freuen sich die Kinder hier auf die Schule und sind über Ferien sogar traurig.

Auch medizinische Behandlung wurde ihnen zum ersten Mal Teil. Dies durfte ich mit Alisha erleben. Ich wurde ins Pre-School Office gerufen, um jemanden zu „behandeln“. Als ich dort eintraf, saß Alisha vor mir. Ihr ganzer Kopf, ihre Beine und Arme waren mit Wunden übersäht. Ich versuchte sie mit dem dürftig bestückten Erste-Hilfe Kasten zu versorgen und ihre Wunden zu reinigen. Am Nachmittag wurde sie dann für eine richtige Behandlung ins Krankenhaus gebracht. Danach sah ich sie einige Zeit nicht wieder. Erst als mir beim Sonntagsbesuch im Village ein glatzköpfiges Mädchen mit ein paar grantigen Wunden entgegen kam. Im Krankenhaus wurde eine ansteckende Hautkrankheit diagnostiziert, welche durch mangelnde Hygiene ausgelöst wird. Glücklicherweise ist diese mit einer einfachen Salbe behandelbar, weswegen sie auch bald wieder gesund war. Trotzdem fragte ich mich auf Grund der Anzahl der Wunden, wie lange sie bereits an der Krankheit gelitten hatte.

Später erfuhr ich, dass die Schwestern einen Bruder haben, welcher ebenfalls in die Creative School geht. Sharon ist schon von Anfang an dabei, aber ich wusste lange nicht, dass er Schwestern hat. Da er zu Hause wohnt, fährt nach der Schule oft im weißen Van mit. Jedes Mal wenn wir ihn absetzten muss ich daran denken, dass er, anders als die Mädchen, immer noch mit den Umständen leben muss und frage mich was ihn zu Hause wohl erwartet.


Da natürlich jedes Kind im Aarti Projekt eine Geschichte hat, kannst du dir sicherlich vorstellen, dass es nur eine der vielen Geschichten ist. Durch meine enge Zusammenarbeit mit Lehrern und Schülern der Creative School bekomme ich recht viele Schicksale und Geschichten mit. Obwohl es nicht immer einfach ist diese zu verarbeiten, bin ich wie gesagt unheimlich dankbar für das Vertrauen der betroffenen Personen und für das Wissen bzw. Bewusstsein.


Ich weiß, dass die Erzählung etwas chaotisch geworden ist, aber ich finde es unheimlich schwer das Thema anzuschneiden und die Geschichte so chronologisch wie möglich darzulegen.


Dankbare Grüße aus Indien

Zia




Eigentlich gibt es zu dem Thema nicht wirklich Bilder, da ich die Mädchen aus Respekt nicht öffentlich zeigen möchte. Deshalb sind hier einfach ein paar Bilder der letzten Wochen.



Letze Woche hatte mein "Gastbruder" Geburtstag.

Zu diesem Anlass konnte ich endlich mal wieder was backen. Wobei es gar nicht so einfach ist hier westliche Backutensilien zu finden.

Da Geburtstage hier normaler Weise nicht gefeiert werden, war es sein erster Geburtstag in diesem Style.






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